Rechtsanwalt Hoenig

Das Weblog des Strafverteidigers

16. November 2020

3 Jahre Freiheitstrafe: Bewährungsfähig!

Die Bewährungsaussetzung einer Freiheitsstrafe von über zwei Jahren? Trotz der Grenze des § 56 Abs. 2 StGB?

Ja, es kann funktionieren!

Allerdings nur, wenn der Strafverteidiger weiß, welche Anträge wann und mit welcher Begründung er beim Gericht stellen sollte.

Ich hatte im vorigen Blogbeitrag (bitte erst lesen) folgenden Fall geschildert …

In einer eigentlich überschaubaren Wirtschaftsstrafsache wanderten die Akten ein paar Jahre von der einen zur anderen Fensterbank der wechselnd zuständigen Staatsanwälte. Knapp vor Ablauf der Verjährungsfrist gelingt es einem Oberstaatsanwalt endlich, Anklage zu erheben. Die Wirtschaftsstrafkammer eröffnet das Verfahren und will den Angeklagten nach der Beweisaufnahme zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilen.

… und gefragt, wie es gelingen kann, doch noch zu einer Strafaussetzung zur Bewährung zu kommen. Immerhin verbietet das Gesetz in § 56 Abs. 2 StGB doch eine Bewährungsstrafe, die über zwei Jahre hinausgeht.

Schau’n wir mal.

Erster Schritt: Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung

Trödeln die Ermittlungsbehörden und/oder die Gerichte, darf das nicht zulasten des Beschuldigten bzw. Angeklagten gehen. Eine überlange Verfahrensdauer muss sich bei der Höhe der Strafe bemerkbar machen. Seit BGH, 17.01.2008 – GSSt 1/07 (pdf) erfolgt die Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als „Vollstreckungslösung“. Und das funktioniert so:

Das erkennende Gericht verurteilt den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Gleichzeitig spricht die Kammer aus, dass ein Teil dieser Strafe als Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt gilt.

Da es dafür keine Formeln gibt, nach denen das Gericht das Ergebnis berechnen kann, muss der Verteidiger das Gericht bei der „Schätzung“ bzw. Festsetzung mit entsprechenden Argumenten unterstützen. In meinem Beispielsfall hat das Gericht 18 Monate als vollstreckt angerechnet und damit gleichzeitig auch den unverhältnismäßigen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Strafsachen festgestellt.

Zweiter, entscheidender Schritt: Reststrafenaussetzung zur Bewährung

Damit ist der Weg offen für die Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe. Die grundlegenden Spielregeln dafür findet der Strafrichter in § 57 StGB.

Die erste Voraussetzung ist nach Stufe 1 erreicht: Die Hälfte der ausgeurteilten Freiheitsstrafe gilt als, d.h. ist vollstreckt. Damit steht die „Halbstrafenbewährung“ zur Disposition.

Die weiteren Voraussetzungen des § 57 Abs. 2 StGB wird ein entsprechend vorbereiteter Verteidiger zusammen mit seinem Mandanten dem Gericht bereits geliefert haben.

Zuständigkeit der Strafkammer?

Nun fehlt noch die Antwort auf die Frage der Strafkammer: Warum denn wir schon wieder?

Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Reststrafenaussetzung ergibt sich aus § 462a Absatz 2 S. 1 StPO: Es ist das (Erkenntnis-)Gericht, das den Angeklagten verurteilt hat. Die Strafvollstreckungskammer ist (noch) nicht an der Reihe, weil die soeben ausgeurteilte (Rest-)Strafe ja noch nicht vollstreckt wird.

Aus der Praxis

Rechtsanwalt Herbert Posner aus Plauen berichtete am 02.05.2019 über einen Fall, den er verteidigt hat und der genau diese Konstellation zum Gegenstand hatte:

Wie das in der in den offiziellen Prozessberichten beschrieben wurde, kann man sich hier anschauen:

Zunächst das Urteil des LG Köln vom 20.03.2019 (101 Kls 16/15), mit dem die Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten ausgeurteilt wurden, wovon ein Jahr und drei Monate als vollstreckt gelten.

Sodann der Beschluss des LG Köln vom 29.04.2019 (101 Kls 16/15) mit der Halbstrafen-Entscheidung.

Strafverteidigung am seidenen Faden

Strafverteidigung ist keine Nebenbeschäftigung quasi als Bonusaufgabe zum Miet- oder Familienrecht, jedenfalls solange ein Rechtsanwalt die Interessen seiner Mandanten, Auftrag- und Geldgeber ernsthaft vertreten und verteidigen will – besonders dann, wenn die Freiheit am seidenen Faden zu hängen scheint.

Ich bedanke mich bei meinem lieben Kollegen und Freund Andreas Jede für seine Anregung zu diesem Blogbeitrag und seine Hinweise auf diese rechtlichen Möglichkeiten einer effektiven Verteidigung in vermeintlich aussichtslosen Fällen.

Dieser Blogbeitrag wurde bereits am 05.05.2019 in meinem „alten“ Weblog veröffentlicht.

Bild: crh

3 Kommentare

  • Marc Robin Wiemert sagt:

    Es gibt noch einen zweiten Weg. Lange Untersuchungshaft im Inland, Anrechnung nach § 51 Abs. 1 S. 1 StGB oder lange bzw. konventionswidirge Auslieferungshaft im Ausland § 53 Abs. 3 StGB und dann klappts auch mit § 57 StGB.

  • JLloyd sagt:

    Vielleicht lassen sich auf diese Weise auch kurze (und damit vergleichsweise unerhebliche) Verfahrensverlängerungen aufgrund der Corona-Pandemie in die Strafvollstreckung einpflegen mit dem Effekt, dass die Gefängnisse etwas leerer bleiben.

  • Berti sagt:

    Da braucht man halt schon auch ein Gericht, das bereit ist, dem Angeklagten einen großzügigen Schritt entgegenzukommen. Nach dem BGH ist der als vollstreckt zu erklärende Teil der Strafe – natürlich nach Berücksichtigung der konkreten Umstände – eher mit einem Bruchteil der Verzögerungsdauer zu bemessen