Rechtsanwalt Hoenig

Das Weblog des Strafverteidigers

24. Mai 2020

Alle müssen raus! Oder?

Die Frage nach dem Sinn und Zweck einer Freiheitsstrafe, wird seit vielen Jahren schon streitig und leider oft unsachlich, emotional geführt.

Dazu ein Blogbeitrag, den ich bereits im September 2016 geschrieben habe und der ein immer noch aktuelles – ungelöstes – Problem betrifft:

Ich denke mal laut:

Von denjenigen, die für ein paar Jahre in den Knast mussten, kommen die wenigsten als bessere Menschen wieder raus.

Je länger jemand im Knast sitzen muss, desto größer ist die Aussicht darauf, dass er nach seiner Entlassung weitere Straftaten begeht.

Über 90 % aller Gefängnis-Insassen werden irgendwann entlassen.

Wenn eine Gefängnisstrafe zu mehr Straftaten führt, je länger sie dauert, wäre es doch eine schlaue Idee, die Kriminalitätsraten dadurch zu senken, dass man alle Gefangenen sofort entlässt.

Aber vielleicht nimmt ja niemand das Ziel des Strafvollzugs ernst. Die Leute werden erst de-sozialisiert, um sie anschließend re-sozialisieren zu wollen. Das funktioniert aber nicht. Also warum ändert man nichts daran?

Ist Freiheitsentzug also doch noch das, was er schon von 1.000 Jahre war: Rache?

Bild: © birgitH / pixelio.de

16 Kommentare

  • Lionel Hutz sagt:

    Gibt es für die These: „Je länger jemand im Knast sitzen muss, desto größer ist die Aussicht darauf, dass er nach seiner Entlassung weitere Straftaten begeht.“ irgend einen Beleg? Ich vermute: Nein. Vielmehr ist es so, dass ein Großteil der Entlassenen später jedenfalls nur noch leichtere Straftaten oder gar keine begeht und nicht wieder in Haft muss.

    • Ok, den Ball spiele ich zurück: Haben Sie einen Beleg für Ihre These, dass eine verbüßte Freiheitsstrafe einen ernsthaften Präventionseffekt auslöst? crh
  • Kristina sagt:

    Nein, das ist Täterdenken und -sprache.

    Strafen dienen zuerst einmal der Abschreckung. Wenn ein Asozialer weiß, dass auf xy lebenslänglich folgen kann, überlegt er es sich zweimal, die Tat zu begehen. Wenn er weiß, dass er nie in Haft kommen könnte, begeht er eine Straftat xy nach der anderen.

    • Gute Idee: Wir müssten dann nur dieses „Lebenslänglich“ (oder andere drakonische Strafen) androhen, schon haben wir keine Straftaten mehr und könnten aus Gefängnissen Sport- und Freizeitheime für Justizwachtmeister, Staatsanwälte und Strafrichter machen. Sollten wir vielleicht mal ausprobieren. crh
  • Vermutlich gibt es einschlägige kriminologische Studie darüber, aber ich glaube nicht an die abschreckende Wirkung der Freiheitsstrafe. Wer solche Taten verübt steckt oft in Zwängen und nähme sogar den Verlust von Gliedmaßen in Kauf. Also meine uneingeschränkte Zustimmung zu mehr Phantasie bei der Prävention. Zum Beispiel kostenloser Sport- und Musikunterricht für alle.

  • Gerrit sagt:

    Hmmm… den Ansatz kann ich zumindest mal nachvollziehen. Erst, wenn in den JVAn sinnvolle Angebote zur Sozialisierung ein- und umgesetzt werden, kann man darauf hoffen, dass diese Zeit Besserung bringt.

    Allerdings sehe ich da dann direkt das Folge-Problem: Die Aussage „Das sind dann ja Freizeitheime für Berufskriminelle.“ Dass diese Aussage dann polemisch ist und weit von der Wirklichkeit entfernt, darüber muss man nicht streiten.

    Wenn also solche Angebote nicht gewollt sind, bleibt als Schlussfolgerung doch nur, entsprechende Bestrafungen in Geld- und Arbeitsstrafen (in gemeinnützigen Einrichtungen sowie Infrastruktur-Projekten) zu wandeln. Ersteres ist häufig mangels Masse nicht zielführend; Zweiteres weckt ungute Erinnerungen an die Vergangenheit.

    Was mir da bleibt, ist hilfloses Schulterzucken. Der Status Quo ist, um es freundlich auszudrücken, ’suboptimal‘. Mögliche Lösungen entweder nicht durchführbar (Geldstrafen mangels Masse), von der Gesellschaft nicht gewollt (Therapie-Angebote in Haft) oder historisch vorbelastet (Arbeitseinsatz).

  • Hardy sagt:

    Juhu, mein Lieblingsblogger ist wieder da 🙂

  • HD sagt:

    Dass die Länge des erlittenen Freiheitsentzuges mit der Wahrscheinlichkeit korreliert, weitere Straftaten zu begehen, ist ohne weiteres verständlich. Beides steht allerdings nicht in einem direkten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Vielmehr hängt beides mit der Persönlichkeit des Betreffenden zusammen. Man muss nämlich schon ein erhebliches Maß an Dissozialität aufweisen, um überhaupt zu hohen Freiheitsstrafen zu kommen. Und Dissozialität ist ein Merkmal, das sich nicht eben mit einem Fingerschnippen erledigen lässt…
    Strafen haben auch – aber nicht nur – den Zweck, eine Besserung des Täters zu erwirken. Andere Zwecke wären: Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten des Betreffenden, solange er in Haft ist; Bestätigung für die rechtstreue Bevölkerung, dass es gut und richtig ist, sich an Recht und Gesetz zu halten; Abschreckung potentieller Straftäter; Sühne.
    Bei Abschaffung von Gefängnissen sehe ich nicht, wie man diese Zwecke anders erfüllen will. Es mag ja sein, dass Rache und Sühne Zwecke sind, die „Bäh!“ sind – aber was ist mit den anderen Zwecken?
    Es ist richtig, dass drakonische Strafen nicht zu mehr Sicherheit führen. Aber dass ein Wegfall des Strafvollzugsystems es täte, das vermag ich auch nicht zu glauben.
    Schließlich ist meine Beobachtung, dass Therapie kein Allheilmittel ist. Als (ehemaliger) Strafvollstreckungsrichter, der in dieser Funktion über die Aussetzung von Strafen zur Bewährung nach Absolvierung einer Therapie in einer Entziehungsanstalt zu entscheiden hatte, habe ich nicht den Eindruck, dass man zu sparsam mit Therapieangeboten sei. Aber trotzdem musste später so manche Aussetzung später leider widerrufen werden.

    Offtopic: Schickes Design! Schön, dass Sie wieder zurück sind. Ich schätze Ihr Blog sehr und habe Sie vermisst.

    • Vielen Dank für das abgewogene Statement. Und auch für die Off-Topic-Rückmeldung. crh
  • Das Ich sagt:

    Natürlich ist es auch eine Art Rache. Allerdings bin ich doch ganz froh, dass gewisse Leute die nächsten Jahre nicht frei rumlaufen dürfen. Da sollte man durchaus entscheiden ob es Gewalttaten waren oder lediglich eine Steuerhinterziehung. Wobei letztere durchaus ab und zu mal stärker bestraft wird, als wenn ich jemanden die Fresse einschlage, bis er nur noch Gemüse ist/ißt.

  • Jansalterego sagt:

    @Lionel Hutz
    Die These ist ausgiebig belegt. Generell gilt, je milder, informeller und ambulanter (vulgo: nichteinsperrender) eine staatliche Reaktion auf Devianz, desto geringer die Rückfallwahrscheinlichkeit. Kann man in jedem zwitgenössischem Kriminologielehrbuch nachlesen.

  • ThoBos sagt:

    Ich sehe da wenig realistische Alternativen.

    Klar – könnte man über die Ausweitung von Therapien nachdenken.
    Allerdings wurde ja auch schon trefflich festgestellt, dass eine Therapie kein Allheilmittel ist. Für viele Betroffene stellt es sogar eher ein lästiges Pflichtprogramm dar.

    Auch sehe ich kein wirkliches Problem, wenn die Bestrafung teilweise aus „Rache-„aspekten erfolgt. Das Bedürfnis (insbesondere als Geschädtigter) nach Genugtuung ist meiner Ansicht nach menschlich und legitim und verhindert Selbstjustiz.

    Wenn man sich die Strafsysteme miteinander vergleicht, haben wir meiner Meinung nach ein durchaus moderates und ausgewogenes System. Man denke hierbei nur an das Three-Strikes-Law in den USA.

    Insgesamt finde ich den Status Quo erhaltswert.

  • @Kristina:

    Wenn hohe Strafen abschrecken, warum ist die Kriminalität in Ländern wie Russland und die USA, wo weitaus härtere Strafen drohen und wo es deutlich mehr Gefängnisinsassen pro 100.000 Einwohner gibt, als hier, ungleich höher?

    Nach Ihrer „Abschreckungstheorie“ müssten diese Länder doch deutlich sicherer sein. Es müsste dort deutlich weniger Kriminalität geben, als hier.

    Insbesondere müsste in den USA die Anzahl an Totschlags- und Morddelikten pro 100.000 Einwohner deutlich niedriger sein als hier, da dort in vielen Bundesstaaten die Todesstrafe, gepaart mit ca. 15-20 jähriger vorheriger Haftzeit, dies auch noch in wesentlich schlimmeren Gefängnissen als hierzulande, dafür droht.

    Sie merken hoffentlich, dass bei Ihrer Abschreckungstheorie etwas nicht passt, gell?

  • Michael K. sagt:

    Der US-amerikanische Santa Clara County District Attorney Jeff Rosen bewundert das deutsche Strafvollzugssystem sehr, vgl. „Low Crime, Clean Prisons, Lessons for America“ auf YouTube (https://www.youtube.com/watch?v=wtV5ev6813I).

    Verglichen mit den USA sind wir wohl deutlich besser aufgestellt. Dass das Kalkül abschreckende Strafandrohung nicht aufgeht, zeigt sich dort überdeutlich – die US-Gefängnisse sind voll, wobei, das dort auch eine Art Business ist.

    Gleichwohl wäre hier in Deutschland eine bessere finanzielle Ausstattung aller JVAs eine gute Investition in die Zukunft. Gebäude, Personal, Ausbildungswerkstätten, Weiterbildung, Therapieplätze ohne Wartezeit, … *träum*

  • Dante sagt:

    Die Ausgangsthese ist nach meiner Erfahrung (langjähriger Richter einer StVK und derzeit Beisitzer einer Schwurgerichtskammer) falsch.

    Gerade die absolventen langjähriger Freiheitsstrafen begehen häufig keine oder nur geringfügige weitere Straftaten. Das hat allerdings auch mit zwei Effekten zu tun, die wenig mit der Qualität des Strafvollzuges zu tun haben:

    1. Die längsten Freiheitsstrafen gibt es für Tötungsdelikte. Die Täter solcher Taten sind in den meisten Fällen nicht vorbestraft. Raubmorde, Morde aus Bandenrivalität, etc. gibt es in Deutschland nur sehr selten. Der Normalfall ist die sogenannte „Beziehungstat“, d.h. ein Partner (in der Regel ein Mann) tötet den anderen Partner (in der Regel eine Frau), weil er/sie (überspitzt gesagt) nicht über hinreichendes Selbstwertgefühl verfügt, um mit einer Trennug zurecht zu kommen. Eine solche spezifische Beziehungskonstellation tritt nach langer Strafhaft selten ein zweites Mal im Leben dieser Menschen auf.

    2. Viele Straftäter werden „zu alt für diesen Scheiß“. Gerade Straftäter aus eher prekären Verhältnissen, Anfang 20, ggf. drogen-, gewalt- und machokulturaffin, kriegen häufg Ende 20/Anfang 30 die Kurve und besinnen sich – gerade wenn sie Migrationshintergrund haben – auf die Werte ihrer Eltern, machen auf Familie und beginnen ein vergleichsweise bürgerliches Leben.

    Bei ersterer Gruppe kann man durchaus überlegen, ob „Rache“ bei der Strafe eine Rolle spielt. Tatsächlich dürfte die Strafe auch generalpräventiven Charakter haben. Drakonische Strafen schrecken zwar nicht stärker ab als die Strafen, die wir jetzt haben. Die Sanktionierung von Tötungsdelikten mit kurzen Freiheitsstrafen oder gar Geldstrafen würde den gesellschaftlichen Wert des Lebens herabsetzen und m.E. über kurz oder lang zu mehr Tötungsdelikten (und einer Kultur der Angst) führen

    Letztere Gruppe bekommt in unserem Strafvollzug durchaus Unterstützung, denn es besteht ja in aller Regel die Möglichkeit, in der Haft Schulabschlüsse nachzuholen, Berufsausbildungen zu machen. sich im Rahmen eines freien Beschäftigungsverhältnisses zu bewähren, um dann vorzeitig entlassen zu werden.

    Natürlich könnten die Angebote besser sein und mir ist durchaus bewusst, dass das was mir die Gefangenen im Rahmen von Anhörungsterminen vor 2/3-Entscheidungen über ihre Erfahrungen und ihre Wandlung im Vollzug erzählen, geschönt ist. Sie wollen ja vorzeitig entlassen werden.

    Die Ausgangsthese ist aber zu billig und entspricht schlicht nicht meinen Erfahrungen. Die Inhaftierung ist geeignet, bei Verurteilten einen Impuls zu setzen, ihr Leben zu ändern. Leider kommt der Impuls nicht bei allen (beim ersten Mal oder in jungem Alter) an.

    Wichtiger wäre es ohnehin, die Lebensverhältnisse außerhalb der Haft so zu ändern, dass Anreiz und Gelegenheit zur Begehung von Straftaten sinken. Das aber können Strafrechtspflege und Strafvollzug nicht leisten.

  • Steffen sagt:

    Was soll man machen mit Straftätern?
    Nur der erhobene Zeigefinger reicht ja auch nicht…

  • Roland B. sagt:

    Daß in Ländern mit drastischeren Strafen dennoch mehr Kriminalität herrscht, muß nicht zwingend bedeuten, daß hohe Strafandrohungen nicht abschreckend wirken.

    Es kann da durchaus andere Ursachen geben für die hohe Kriminalität, soziale Ursachen, der leichte Zugang zu Waffen, ein anderes Gesellschaftsverständiss oder was weiß ich.
    Japan hat meines Wissens auch sehr hohe Strafen, dennoch eine geringe Kriminalitätsrate.

    Außerdem muß man sicher unterscheiden zwischen – vereinfacht und überspitzt gesagt – normalen sowieso mehr oder weniger rechtstreuen Bürgern und Leuten, denen Regeln eh ziemlich egal sind. Erstere lassen sich sicher eher abschrecken durch die Androhung von Haft als Letztere. Und wer einen Mord begehen will oder ein anderes schweres Delikt, wird in seine Überlegungen sowieso nicht einbeziehen, ob er dafür mit zehn oder mit fünfzig Jahren rechnen muß.

    Soweit meine Küchenpsychologie/Küchensoziologe.

  • BV sagt:

    Und keine Woche später gibt es eine Kolumne von Fischer zu dem Thema, der ähnliche Zweifel äußert: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/hat-strafe-sinn-kolumne-von-thomas-fischer-a-4210dae4-0aab-42c3-a1c1-344ad17ee6fb

    Interessant wäre aber tatsächlich die Antwort auf die Frage nach Alternativen? Alle rauslassen oder gar nicht bestrafen wäre der Gemeinschaft wohl kaum zu vermitteln. Da bräuchte es sinnvolle und zielführende Preventions- und Therapieansätze. Schwierig…

  • Arnooo sagt:

    Gibt es da noch sogar ein Projekt „irgendwo in Skandinavien“, wo Straftäter nicht eingesperrt werden, sondern in einer Art Wohngruppe leben? Vor sehr langer Zeit mal gelesen, da stand IMHO auch bei, dass die Rückfallquote niedriger als im „klassischen“ Strafvollzug sei.