Rechtsanwalt Hoenig

Das Weblog des Strafverteidigers

22. Dezember 2022

Vergessliche Strafjustiz

Die Strafjustiz ist überlastet. Das ist bekannt. Deswegen scheint sie einen Teil ihrer Aufgaben auf die Verteidiger auszulagern.

Im Laufe der Jahre sammeln sich in meiner Kanzlei die Akten an, in denen das Verfahren eigentlich schon abgeschlossen ist. Das Urteil ist rechtskräftig und alle Kostenrechnungen sind ausgeglichen. Dennoch lege ich einen Teil der Akten erst zwei bis fünf Jahre später ab.

Das betrifft die Verfahren, in denen meine Mandanten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurden (§ 56 StGB). In all diesen Fällen bestimmt das Gericht die Dauer der Bewährungszeit, die zwischen zwei und fünf Jahre liegt (§ 56a StGB).

Nach Ablauf dieser Frist hat das Gericht die ausgesetzte Strafe endgültig zu erlassen, sofern nicht irgendwas dazwischen gekommen ist – zum Beispiel eine neue Straftat oder nicht erfüllte Bewährungsauflagen.

Der Idealfall

Für die Gerichtsverwaltung bedeutet das, die Akte muss im Idealfall dem zuständigen Richter am Tage des Fristablaufs auf den Tisch gelegt werden, damit er sich bei der Staatsanwaltschaft über das Leben des Verurteilten erkundigen kann.

Von dort könnte dann eigentlich in Stunden- oder Tagesfrist grünes Licht kommen, so dass der Verurteilte eine Woche später Post vom Gericht im Kasten hat, die auf den § 56g StGB Bezug nimmt.

Dass es irgendwas gibt in der (Berliner) Strafjustiz, das auch nur in die Nähe eines Idealfalls kommt, scheint jedenfalls bis zu meinem beruflichen Ende völlig ausgeschlossen zu sein.

Textbausteinroutine

Deswegen notiere ich mir das Datum des Ablaufs der Bewährungszeit und schicke parallel an Gericht und Staatsanwaltschaft den Textbaustein „Antrag auf Straferlass“:

in vorstehend genannter Angelegenheit beantrage ich nach Ablauf der Bewährungszeit am [DATUM] den Erlass der nach § 56 StGB ausgesetzten Freiheitsstrafe und bitte um Zusendung einer Ausfertigung des entsprechenden Beschlusses.

Textbaustein „Antrag auf Straferlass“

Einen Monat später schicke ich dann einen zweiten Textbaustein an das Gericht:

ich erinnere an meinen Antrag auf Straferlass vom [DATUM] und sehe nun einer Entscheidung binnen zweier Wochen entgegen.

Textbaustein „Erinnerung an Straferlass“

Drei Wochen später folgt dann der dritte Textbaustein

auf meinen Antrag vom [DATUM] und meine Erinnerung daran vom [DATUM] habe ich bis zum heutigen Tage keine Reaktion erhalten. Ich erhebe daher nun Dienstaufsichtsbeschwerde und fordere zur unverzüglichen Bearbeitung des Antrags auf.

Textbaustein „Dienstaufsichtsbeschwerde wegen Straferlass“

Dann dauert es in der Regel noch ein paar Tage, bis sich hier jemand meldet, meist telefonisch, mir irgendwas von „die Staatsanwaltschaft ist schuld, die Geschäftsstelle war im Urlaub, zwei Mitarbeiterinnen sind in Elternzeit, der Richter war krank … erzählt, bevor dann wiederum ein paar Tage später der begehrte Beschluss endlich hier eintrudelt.

JEDES. VERDAMMTE. MAL.

Für diese Arbeit, die mir da übergeholfen wird und die ich regelmäßig für Gotteslohn erledige, dankt mir der Mandant. Dem brennt es nämlich regelmäßig heftig unter den Nägeln, seine unrühmliche Vergangenheit endgültig abschließen zu können.

Die Richter, deren Aufgabe es wäre, sich auch ohne Antrag, Erinnerung und Dienstaufsichtsbeschwerde eines Strafverteidigers um diese Sachen zu kümmern, bitten maximal um Verständnis, oft jedoch kommen pampige Reaktionen.

So ist sie nun mal, diese verarmte und vernachlässigte Justiz; so kenne ich sie jetzt seit mehr als einem Vierteljahrhundert, und bin froh, nur von außen damit zu tun zu haben.

__

Image by Andreas from Pixabay

2 Kommentare

  • Matthias sagt:

    „Dass es irgendwas gibt in der (Berliner) Strafjustiz, das auch nur in die Nähe eines Idealfalls kommt“
    Ich verstehe die Fokussierung auf Strafjustiz nicht. Mit (Berlin) ist doch alles gesagt.

  • Gerd Oichnixohn sagt:

    Ließe sich das nicht ganz einfach lösen, wenn man wollte? So wie ich Abs. 2 von 56g, kann man den Erlass ja trotzdem noch nachträglich widerrufen, wenn innerhalb eines Jahres heraus kommt, dass es in der Bewährungszeit zu weiteren Straftaten kam.

    Also schickt das Gericht automatisch eine Nachricht an die Staatsanwaltschaft, dass die Strafe jetzt erlassen wird und schickt ebenfalls automatisch 2 Wochen später einen entsprechenden Beschluss an den Angeklagten. Minimale Arbeit für die Richter.

    Und dann hat die Staatsanwaltschaft ein Jahr und 14 Tage Zeit für Widersprüche. Nutzt sie die nicht aus, kann es auch so wild nicht gewesen.